Grazyna Zielinska hat ihren Job aufgegeben. Sie ist – wie Tausende andere Pflegekräfte – wegen der Pandemie in ihre Heimat zurückgekehrt. Zurück bleiben alte Menschen ohne Betreuung – und überforderte Angehörige.
In den vergangenen anderthalb Jahren, sagt Grazyna Zielinska, habe sie zwei Familien gehabt: ihren Mann, drei Kinder und sechs Enkel in Polen. Und das Ehepaar H. mit seiner erwachsenen Tochter, deren Mann und Sohn in Berlin. Herr und Frau H. sind über 80 Jahre alt. Zielinska wohnte jeden zweiten Monat bei ihnen und half ihnen, sich zu waschen und sich anzuziehen. Sie kochte und bügelte. Sie schob Frau H. im Rollstuhl durch die Nachbarschaft und lauschte Herrn H., wenn er Klavier spielte.
Damit ist seit vergangenem Montag vorerst Schluss. Grazyna Zielinska, 65, ist in ihre Heimat zurückgekehrt. Sie hat schweres Asthma und Angst, sich selbst oder die alten Menschen anzustecken, die sie pflegte. „Mir fiel die Entscheidung, abzureisen, sehr schwer“, erzählt Zielinska am Telefon. Frau H. habe geweint und ihre Hand gestreichelt und sie tausendmal gefragt, ob sie auch wirklich wiederkomme.
Niemand weiß genau, wie viele Helferinnen aus Polen, Ungarn, Litauen oder Rumänien in deutschen Haushalten leben. Schätzungen schwanken zwischen 100.000 und mehr als 300.000 Betreuungskräften. Zehntausende dürften in den vergangenen Wochen in ihre Heimat zurückgekehrt sein. Der Verband für häusliche Betreuung und Pflege warnte, dass nach Ostern bis zu 200.000 Betreuerinnen und Betreuer aus Osteuropa fehlen könnten.
Familien hierzulande stellt das vor große Probleme. Wer kümmert sich nun um die Großeltern? Die Optionen sind schnell erschöpft:
Ersatz aus Osteuropa? Ist gerade personell und logistisch schwer zu organisieren. Viele Busverbindungen sind eingestellt. Und geschätzt neun von zehn Haushaltshilfen waren, anders als Grazyna Zielinska, bisher illegal beschäftigt. Ohne Arbeitsverträge kommen sie jedoch noch schwerer über die Grenzen. „Bei mir rufen jeden Tag drei bis vier Kunden an, die nach einer regulär angestellten Betreuungskraft fragen“, sagt Sabina Kolba, die seit 2006 eine kleine Vermittlungsagentur betreibt. Doch Firmen aus Litauen dürften gar keine Betreuer mehr schicken, und auch für Polen erlasse die Regierung täglich neue Anordnungen. „Niemand weiß, ob es möglich sein wird, das Land in einigen Tagen noch zu verlassen“, sagt Kolba.
Ambulante Pflegekräfte? „Dieser Bereich kann nicht auffangen, dass so viele Haushaltshilfen weggebrochen sind“, sagt Frank Weidner, Leiter des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung. Es fehle dort nicht nur an Personal, sondern auch an Schutzkleidung. Die Politik habe sich bisher darauf konzentriert, die Kliniken auszustatten. Doch ambulante Pflegekräfte, die täglich von Haushalt zu Haushalt gingen, seien nicht annähernd gut genug mit Masken und Kitteln versorgt – und inzwischen sind diese Produkte nur noch schwer zu bekommen.
Kurzzeitpflege? Pflegebedürftige Menschen vorübergehend in einer stationären Einrichtung unterzubringen, ist gerade ebenfalls schwierig. Selbst wenn es genügend Plätze gäbe, um den Bedarf zu decken, wollen oder können viele Alten- und Pflegeheime sie nicht vergeben. Das Land Niedersachsen und die Stadt Köln haben Aufnahmestopps für alle Einrichtungen angeordnet, seit sich das Coronavirus – mit dramatischen Folgen – in mehreren Heimen ausgebreitet hat. Weitere Länder und Kommunen dürften folgen, wenn sich die Lage noch mehr zuspitzt.
Tagespflege? Bisher konnten Pflegebedürftige, die grundsätzlich zu Hause leben, tage- oder stundenweise in Einrichtungen betreut und versorgt werden. Doch auch dieses Angebot ist in der Coronakrise stark heruntergefahren.
Und so müssen oft die Angehörigen einspringen, um die Betreuungslücke zu schließen. Und das ist jetzt eine noch extremere Belastung als in geregelteren Zeiten. Bundesweit sollen Eltern ihre Jobs im Homeoffice erledigen und nebenbei auch ihre Kinder betreuen, weil Schulen und Kitas geschlossen sind. Und dann auch noch die Oma betreuen? Geht nicht, schon wegen der Ansteckungsgefahr. Eine tägliche Zerreißprobe für viele Familien.
Familie H. hatte großes Glück: Ihre Vermittlerin Patrycja Rönnefarth fand einen Ersatz für Grazyna Zielinska. Es ist ein Mann, Pawel, 37 Jahre alt. Er zog vor einigen Tagen bei Herrn und Frau H. ein. Er sei sehr sympathisch, sagt die Tochter des Ehepaars. Sie sei dankbar, dass er so schnell kommen konnte.
Die Umstellung falle ihren Eltern trotzdem schwer, sagt die Tochter. Ihre Mutter müsse sich noch daran gewöhnen, dass ein Mann sie nun wasche und mit ihr zur Toilette gehe. „Auch für meinen Vater ist das nicht einfach.“
Außerdem war Grazyna Zielinska für die Familie viel mehr als eine Haushaltshilfe – und das seit dem ersten Tag: Da stand sie mit Blumen vor der Tür, als würde sie Freunde besuchen. „Sie hat uns alle glücklich gemacht“, sagt die Tochter. Ihre Eltern habe sie so liebevoll gepflegt wie ihre eigenen, und selbst für ihren Sohn sei sie wie eine Oma gewesen.
Familie H. hofft, dass Grazyna Zielinska bald zurückkommen kann. Gerade sitzt die aber noch allein in ihrer Wohnung die von Polen staatlich verordnete zweiwöchige Quarantäne ab. Ihr Ehemann musste ausziehen, er wohnt beim Sohn und stellt seiner Frau die Einkäufe vor die Tür. Die Straße vor ihrem Wohnzimmerfenster in der Stadt Zary in Westpolen ist menschenleer, die Bäume sind noch kahl.
Das traditionelle Osterfrühstück, zu dem Zielinska gern ihre Kinder eingeladen hätte, muss dieses Jahr ausfallen. „Wenn es geht, wollen wir es eine Woche später nachholen“, sagt Zielinska. Und im Mai, so hofft sie, kann sie vielleicht schon zurück nach Berlin.
Bis dahin kümmert sich Pawel um das betagte Ehepaar. Das ist eine Erleichterung für die Familie – und gleichzeitig ein Risiko. Denn niemand kann ihnen garantieren, dass er das Virus Sars-CoV-2 nicht in sich trägt.
Deutschland führt mehr Tests durch als andere europäische Länder. Doch auch hierzulande ist recht genau definiert, wen Ärzte auf das Coronavirus untersuchen. Junge Menschen ohne Vorerkrankung, Symptome oder Kontakt zu Infizierten gehören nicht dazu. Auch nicht, wenn sie täglich mit Senioren zu tun haben, für die das Virus schnell lebensgefährlich werden kann. „Ich muss mich einfach darauf verlassen, dass Pawel gesund ist“, sagt die Tochter.